Manfred Mai
Autor mit Herz, Heimat und eigenem Literaturpreis
Fußball, Wälder durchstreunen, Hütten bauen und Höhlen erforschen. Das war die Kindheit von Manfred Mai, der 1949 in Winterlingen auf der Schwäbischen Alb zur Welt kam. Sehr viel mehr draußen sein als drinnen im Klassenzimmer, das war sein Wunsch, denn die Schule war nicht sein Ding. Er wollte sie schnell hinter sich lassen. Abgelöst wurde die Pflichtzeit von der Malerlehre, die ihn allerdings auch nicht dorthin brachte, wo er sich wohl fühlte. Bis einige Schlüsselerlebnisse dafür sorgten, dass er heute der ist, der er ist: Ein Autor mit Herz, Heimat und einem eigenen Literaturpreis. Das Schreiben muss ihm liegen und dort scheint er angekommen zu sein, denn seit seinen Anfängen vor 40 Jahren wurden im deutschsprachigen Raum beinahe zehn Millionen Exemplare seiner Bücher verkauft. Das imponiert. Darüber hinaus, dass das Winterlinger Urgewächs auch heute noch mit seinen „Dienstagskickern“ dafür sorgt, dass es nicht nur um das Gewinnen geht, sondern um so viel mehr. Bei unserem Gespräch möchten wir herausfinden, ob dem so ist. Außerdem sind wir stark daran interessiert zu erfahren, wie jemand, der früher nicht gerne zur Schule ging, Pädagoge werden konnte. Wie Manfred Mai auch, machen wir uns auf die Suche…
Herr Mai, vielen Dank, dass wir heute ein bisschen Ihrer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kennenlernen dürfen. Bevor wir in die Geschichte eintauchen, was bedeutet die Schwäbische Alb für Sie?
„Winterlingen und die Region darüber hinaus ist meine Heimat. Hier fühle ich mich wohl. Hier bin ich zuhause. Ich kenne Land und Leute, die Menschen und ihre Art, die schönen Plätze. Ich weiß, wo ich Ruhe finden kann, wenn ich möchte. Ich kann mit meinen Enkeln, die das Wichtigste für mich sind, unterwegs sein und etwas erleben. Ich weiß, was es gibt und wo es sich lohnt.
Während des Studiums und danach lebten meine Frau und ich auch woanders. Doch sobald wir unser erstes Kind erwarteten, hatten wir entschieden, zurück nach Winterlingen zu ziehen. Wir wollten, dass die Kinder dort aufwachsen, wo die Omas und Opas lebten. Ich bin womöglich auch etwas mehr verwurzelt als andere und es klingt vielleicht klischeehaft, aber meine Frau war meine Nachbarin. Ich hatte schon früh ein Auge auf sie geworfen und wusste immer, dass ich sie später einmal heiraten werde. Das gehört für mich schon alles zusammen.“
Das nenne ich wahre Heimatverbundenheit. Nun weiß ich, dass Sie nicht gerne zur Schule gegangen sind. Auch die Lehrjahre waren nicht bereichernd für Sie. Sie waren letztendlich auf der Suche nach etwas, das Sie erfüllt. Dabei sind Sie zum Lesen gekommen. Was ist passiert?
„Mit 19 Jahren musste ich meine Wehrpflicht leisten. Dabei gab es eine seelsorgerische Stunde, in der die meisten vor sich hingedöst haben. Eines Tages erzählte der Pfarrer von einem Buch des Unteroffiziers Beckmann, der im Krieg viel erlebt und viel Druck auszuhalten hatte. Bei dieser Geschichte war ich hellwach, sie hat mich getroffen. So bin ich zum Werk ‚Draußen vor der Tür‘ von Wolfgang Borchert gekommen, dem bekanntesten Autor der Trümmerliteraur. In seinem Buch gab es zwei Kurzgeschichten, von welchen ich dachte, dass sie über mich geschrieben wurden. ‚Die Küche‘ und ‚Das Brot‘, ich hatte das Gefühl, sie erzählten von mir und meiner Familie. Da hat es bei mir klick gemacht. Plötzlich habe ich meine Eltern in einem anderen Licht gesehen, ich habe sie verstanden und es hat mein Verhältnis zu ihnen auf eine andere Ebene gehoben.
Hinzu kam, dass ich auf meiner Stube 106 – so etwas vergisst man nie – einen Kameraden hatte, der ständig las. Von ihm habe ich ebenfalls Bücher bekommen. Doch seine Literatur war sehr anspruchsvoll. Ich musste feststellen, dass ich eine doch sehr eingeschränkte Sichtweise hatte und das dies damit zusammenhängt, dass ich nicht lese. Ich wollte aber mehr verstehen, wie mein Stubenkamerad.
Durch diese beiden Schlüsselerlebnisse bin ich zum Lesen geworden.“
Lesen und Bücher, spielte das in ihrer Familie bis dato überhaupt eine Rolle?
„Nein, überhaupt keine. Es gab die Bibel, sonst nichts. Als Junge hatte ich auch mal ein Buch über Fußball und bei den Bundesjugendspielen konnte ich einige Bücher gewinnen. Doch davon habe ich nie welche gelesen. Es war kein Thema. Im Gegenteil, wir hatten zuhause eine große Landwirtschaft. Dort mussten wir ordentlich mithelfen. Da gab es keine freie Zeit, um ‚nur‘ zu lesen. Die Bundeswehr war die wichtigste Zeit. Ohne diese Erfahrung wäre ich vermutlich Maler geblieben.“
Später studierten Sie Pädagogik. Wie kam das, wo sie doch selbst ungern zur Schule gegangen sind?
„Zum einen, weil ich während des Wehrdienstes schon zum Unteroffizier ernannt wurde, was durchaus ungewöhnlich ist. Dadurch durfte ich andere Wehrdienstleistende unterrichten und ihnen Wissen vermitteln. Das hat mir gefallen. Zum anderen erkannte ich nach dieser Zeit, während meiner Arbeit in der ortsansässigen Fabrik, dass ich etwas verändern muss. Ich wollte nicht für den Rest meines Lebens dort arbeiten. Allerdings war ich etwas verloren, da ich ja nur Volksschüler war und meine Möglichkeiten begrenzt waren. Aber wie das Leben so spielt, traf ich auf einen Maler in Winterlingen, der ebenso Lehrer war. Durch ihn habe ich erfahren, dass man auf dem zweiten Bildungsweg Lehrer werden konnte. Es brauchte einen Vorbereitungskurs auf das Studium an der Pädagogischen Hochschule. Auf diesen habe ich mich ein Jahr lang vorbereitet und entgegen allen Behauptungen des damaligen Direktors, habe ich die Aufnahme in den Kurs geschafft. Ab da habe ich studiert, und zwar richtig. Ich war mit vollem Eifer bei der Sache. Ich war stolz auf das, was ich erreicht habe. Das war für mich unbeschreiblich.“
Was für ein Wandel und schön, dass Ihre Suche erfolgreich war. Wie ergab es sich, dass Sie zu Schreiben begonnen haben?
„Meine ersten Fingerübungen entstanden während meines Studiums der Politikwissenschaft und der deutschen Sprache. Ich besuchte ein Seminar zur Lyrik von Berthold Brecht. Da dachte ich mir bereits, dass er simpel schreibt, nicht so verklausuliert, zum Beispiel ‚Ich weiß nicht, wo ich herkomme, ich weiß nicht, wo ich hin will‘. Das konnte man schlichtweg verstehen. Dabei dachte ich mir, so könnte ich auch schreiben.
Doch der eigentliche Auslöser war dann meine Arbeit als Lehrer. Zu Beginn wurde mir eine sehr anspruchsvolle Klasse zugeteilt, die letztendlich keiner unterrichten wollte und deren Einstellung war, dass Lehrer die natürlichen Feinde der Schüler sind. Ich musste Strafaufgaben verteilen, obwohl ich das nicht wollte. Ich wollte mit den Schülern partnerschaftlich umgehen, meinen Unterricht offen gestalten. Doch ich bekam die Klasse nicht in den Griff. Es gab einige Tage, an denen ich mich als Versager fühlte oder aufgeben wollte.
Zu dieser Zeit habe ich begonnen, mir die Dinge von der Seele zu schreiben. Ich hinterfragte in meinem Schreiben, weshalb gewisse Schüler so schwierig sind, was ihnen widerfahren sein muss. Ich hinterfragte, warum sie so sind, wie sie sind. Das Schreiben hat mir geholfen, Dampf abzulassen und Klarheit zu gewinnen. Schreibend habe ich das für mich besser verstanden. Irgendwann habe ich diese Texte zensiert in die Klasse gegeben und wir haben darüber im Rahmen des Unterrichts diskutiert. So konnten wir – die Klasse unwissentlich und ich – unsere Themen aufarbeiten. Bis eines Tages eine Schülerin bemerkte, ‚das ist ja wie bei uns‘ und mich fragte, ob ich diese Texte selbst verfasse. Das war ein Schlüsselerlebnis. Meine Schüler waren davon beeindruckt, dass ich mir Gedanken über sie mache und sie mir am Herzen liegen.
So bin ich zum Schreiber geworden und habe von da an, alles in Geschichten und Gedichte verarbeitet.“
Das ist bemerkenswert Herr Mai. Mittlerweile schreiben Sie in so unterschiedlichen Genres. Ist das Absicht?
„Es gibt einfach so vieles, das interessant ist und ich bin immer neugierig. Ausschlaggebend war dazu eine Erkenntnis nach meinen ersten Jahren als Autor. Die ersten beiden Bücher waren Jugendbücher und erzählten aus meinem Leben, von Schülern und deren Erfahrungen. Als ich dann selbst Kinder bekam, schrieb ich über diese Erfahrungen Geschichten. Bis ich eines Tages bemerkte, dass ich mich langsam wiederhole. Das war der Zeitpunkt, an dem ich entschieden habe, über andere Dinge zu schreiben, zum Beispiel über die deutsche Geschichte. Das war eine völlig andere Art zu arbeiten. Ich musste viel forschen und Recherche betreiben. Da war ich intellektuell anders gefordert. Es folgten Romane für Erwachsene, zwischendurch Gedichte. Alles, woran ich Interesse hatte und ich das Gefühl hatte, weiterzukommen.“
Und kullern die Bücher einfach so aus Ihnen heraus Herr Mai? Oder woher nehmen Sie die Inspiration?
„Meine Geschichten sind immer aus dem entstanden, was um mich herum los ist und was ich erlebt habe. Das, was mich beschäftigt und mir wichtig ist, darüber schreibe ich. Ehrlicherweise muss ich aber auch sagen, dass es Themen gibt, die die Verlage vorgeben. Da gibt es eine gewisse Attraktivität bei den Lesern und diese wollen die Verlage natürlich erfüllen. Allerdings wird man nie erleben, dass ich eine Einhorngeschichte schreibe. Ich wäge durchaus ab, was mir und meinen Werten entspricht.“
Was haben Sie noch nicht geschrieben, was längst aufgeschrieben gehört?
„Oh, da gibt es noch vieles, was ein Buch wert ist. Im Moment denke ich an ein Sachbuch über Demokratie. Sie ist gerade in aller Munde, doch niemand weiß so recht, was sie ist, woher sie kommt und welche Bedeutung sie hat. In Zeiten von Fake News und Verschwörungstheorien ist das eine gefährliche Sache. Die Menschen reden über Dinge, wovon sie keine Grundlagen haben und sich nicht auskennen. Daher würde ich sehr gerne ein Buch darüber schreiben, in dem unser System und unsere Art zu leben simpel erklärt wird. Fragen, wie unser Staat aufgebaut ist, wie er funktioniert und was nicht funktioniert, möchte ich beantworten. Damit die Menschen besser verstehen, was in unserem Land vor sich geht und dies auch richtig begründen können.“
Diese Art der Aufklärung können wir gut gebrauchen. Im Hinblick auf Ihr aktuelles Wirken: Was ist wichtiger denn je in der (jungen) Gesellschaft?
„Für mich wäre das, dass man das Smartphone jeden Tag eine schöne Weile beiseitelegt und sich mit dem Hier und Jetzt, mit dem Leben, beschäftigt. Damit man sich mit den Mitmenschen und seiner Umwelt beschäftigen kann. Dazu ab und zu ein gutes Buch lesen, das einen weiterbringt und um sich selbst und sein Umfeld besser zu verstehen. Dieses Verständnis leistet das Internet bei Weitem nicht. Damit vor allem junge Menschen wieder sehr viel mehr leben und erleben. Dass sie sich gegenseitig spüren.“
Und für Ihre Heimat, den Zollernalbkreis, was ist Ihnen da besonders wichtig?
„Auch ein bisschen mehr von dem, dass wir uns gegenseitig wahrnehmen, uns verstehen und uns berühren. Außerdem wäre es aus meiner Sicht wichtig, dass wieder mehr Räume und Möglichkeiten geschaffen werden, die dieses Zusammensein bewahren und bestärken. Es braucht Orte, an denen man sich begegnet und man miteinander leben kann. Der Landkreis und die Kommunen sind aus meiner Sicht angehalten, sich darüber Gedanken zu machen.
Mithelfen und -wirken zu können, ist mir selbst ebenso wichtig. Ich bin mit 75 nun zum zweiten Mal in den Gemeinderat gewählt worden. Außerdem gebe ich Kindern Trainingsstunden beim Tennis und veranstalte Elternabende zum Thema Lesen. Mit meinen Dienstagskickern bin ich wöchentlich auf dem Fußballplatz und gebe alles. Dabei bin ich mit Abstand der Älteste – und nicht unbedingt der Schlechteste.“
Ein sehr bewegtes Leben, auf das Sie zurückblicken und das Sie noch immer führen, Herr Mai. Dazu sind Sie ein starkes Vorbild und Mutmacher. Sie zeigen, dass es sich lohnt, an seine Möglichkeiten zu glauben und nicht aufzugeben. Und wie Sie so schön sagen, „dass man über Texte miteinander ins Gespräch kommen kann“, bleibt zu wünschen, dass es vielen Menschen mit ihren Büchern gelingt. Für Ihr neues Projekt zur Demokratie wünschen wir Ihnen viel Muse und Schreibkraft. Herzlichen Dank für dieses wertvolle Gespräch.
Manfred-Mai-Preis
Anlässlich seines 70. Geburtstags spendet Manfred Mai einen Preis für Kinderliteratur. Weil er insbesondere der Leseförderung dienen soll, ist im Preisgeld eine Lesung in einer Schule seiner Heimatgemeinde Winterlingen enthalten. Der Preis wird im Rahmen dieser Lesung verliehen. Im Frühjahr 2025 wird der Preis zum dritten Mal ausgeschrieben.