AUF DER ALB ZUHAUSE
PROFESSOR DR. RAINER SCHLEGEL – Ehemaliger Präsident des Bundessozialgerichts
„Doch am Ende ist es gut so. Ich habe immer gerne gearbeitet. Es wäre nicht natürlich, wenn ich jetzt nur noch spazieren gehen würde.“
Wenn ich von „ehemalig“ schreibe, denke ich an früher. An eine Zeit, die einige bis viele Jahre zurückliegt. Dabei treffe ich Professor Dr. Rainer Schlegel nur knapp vier Wochen nach seinem Eintritt in den Ruhestand. Ganz frisch ist diese Erfahrung und vom Ruhestand hat er noch nicht viel mitbekommen, wie er mir mit einem Lächeln verrät. Derzeit arbeitet er Liegengebliebenes auf, hält Vorträge und widmet sich der Festschrift, die er zu seiner Verabschiedung aus seinem Amt als Präsident des Bundessozialgerichts erhalten hat.
In einem sehr sympathischen und entspannten Gespräch darf ich den Mann von der Alb, der acht Jahre Präsident des Bundessozialgerichts in Kassel war, und seine Perspektiven hinsichtlich unseres Staates und des Standorts Zollernalb kennenlernen. Dabei wird immer wieder sein Bestreben deutlich, dass es das kritische Wort genauso braucht, wie das Festhalten am Positiven.
„Wenn wir über die derzeitige Lage des Staates aber auch unsere eigene Situation nachdenken, fällt einem schon etwas Positives ein.“ Und das ist es, was aus dem Gespräch mit Rainer Schlegel hervorgeht: Immer wieder den Weg zu dem zurückzufinden, was uns Mut macht und uns motiviert. Nicht aufzugeben, sich auf seine eigenen Kräfte zu besinnen und sich daran zu erinnern, was die Menschen in diesem Land schon alles geschafft haben. „Wenn man überlegt, wo dieses Land herkommt und wie es hier 1945 aussah, erkennt man, dass es uns heute doch ganz gut geht. Das war nicht immer so. Nach dem Krieg waren die Städte, vor allem die großen wie Berlin oder Dresden, fast ausnahmslos zerstört – Kassel etwa zu 95 Prozent. In einer einzigen Nacht im Jahr 1945 starben dort bei einem Bombenangriff über 10.000 Menschen. Auf der Alb, wie allgemein auf dem Land, hielt sich die Zerstörung in Grenzen. Doch auch hier herrschte große Not. Die meisten Menschen hatten am Ende des Zweiten Weltkriegs nichts. Und sie konnten – anders als heute – auch nicht darauf hoffen, dass der Staat ihnen irgendetwas gibt. Es war damals auch überhaupt nicht absehbar, ob der Staat jemals wieder leistungsfähig sein würde und seine Bürger mit Sozialleistungen unterstützen könnte. An diese verheerende Situation sind die Menschen nach 1945 ohne große Anspruchshaltung gegenüber dem Staat, aber mit Mut und Tatkraft herangegangen. Man hat angepackt, man wollte es wieder zu etwas bringen. Unser Land hat es geschafft, sich aus dieser katastrophalen und fast aussichtslosen Lage wieder heraus- und hochzuarbeiten. Wir sprechen von einem „Wirtschaftswunder“. Wir haben eine demokratische Gesellschaft geformt, die in vielen Bereichen mustergültig war und ist. So haben wir heute ein funktionierendes Sozial- und Staatswesen, eine alles in allem erfolgreiche Wirtschaft und ein funktionierendes Rechtswesen. Das alles haben die Menschen dieses Landes seit Gründung der Bundesrepublik vor 75 Jahren geleistet.
Unsere Sorgen von heute sind ganz andere, wir drehen uns größtenteils um uns selbst. Wir haben eine zum Teil völlig überzogene Anspruchshaltung gegenüber dem Staat entwickelt. Dieser gerät allerdings angesichts enormer Aufgaben und liegengebliebener Investitionen in Infrastruktur, Bundeswehr, Bildung oder den Umstieg auf erneuerbare Energiequellen an seine finanziellen Grenzen. Der Überfall Russlands auf die Ukraine hat nicht nur die Energie enorm verteuert, er uns hinsichtlich unserer wirtschaftlichen Lage auch die Augen geöffnet. Der Wirtschaft ging es lange Zeit sehr gut. Aber dies ist keine Selbstverständlichkeit. Unser Wohlstand fällt nicht vom Himmel. Er muss jeden Tag neu erarbeitet und verteidigt werden. Das erfordert Anstrengungen von allen. Jeder einzelne ist gefordert. Wenn wir das als Bürger begreifen, ist der erste Schritt getan, dass es wieder aufwärts geht.“
Herr Schlegel, das sind motivierende Worte, die Sie wählen und in Anbetracht unserer derzeitigen, nationalen Herausforderungen etwas, das wir nur zu gerne hören. Wie können wir uns die Arbeit des Bundessozialgerichtes vorstellen? Welche Aufgaben nimmt es wahr?
„Vom Bundessozialgericht hört man als Bürger ab und zu, zum Beispiel im Fernsehen, wenn in Kassel eine wichtige beziehungsweise interessante Entscheidung getroffen wird. Doch so richtig etwas darunter vorstellen können sich die wenigsten Bürger. Das Bundessozialgericht in Kassel ist die letzte Instanz in sozialen Streitigkeiten. Die erste Instanz sind die Sozialgerichte, zum Beispiel das Sozialgericht in Reutlingen, die zweite das Landessozialgerichte, wie das in Stuttgart. Das Bundessozialgericht in Kassel ist die höchste Instanz in der Sozialgerichtbarkeit. Sie entscheidet die rechtlich bedeutenden Verfahren und sorgt für eine einheitliche Rechtsprechung in ganz Deutschland. Der Sache nach geht es zum Beispiel um die Ansprüche der Bürger auf Arbeitslosengeld, Bürgergeld, Sozialhilfe, Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung, um Streitigkeiten in Bezug auf Krankenbehandlung oder die Höhe einer Rente, aber auch Fragen der Vergütung von Ärzten oder Krankenhäusern.“
Der Aspekt der Rentenversicherung ist eine Thematik, die hierzulande viele Bürger beschäftigt. Nun befassen Sie sich mit der Nachhaltigkeit in sozialen Sicherungssystemen. Was braucht es aus Ihrer Sicht, um in der Rentenversicherung für mehr Nachhaltigkeit zu sorgen, damit den Bedürfnissen aller Generationen gerecht werden kann?
„Seit Beginn meines Berufslebens beschäftige ich mich mit Fragen der sozialen Sicherung. Diese braucht aus meiner Sicht drei Dinge. Zunächst eine funktionierende, florierende Wirtschaft. Insoweit sieht es gerade nicht so gut aus. Wir müssen jeden Euro, den wir ausgeben, auch erwirtschaften. Denn der Sozialstaat setzt voraus, dass Geld da ist, das für Soziales ausgegeben werden kann. Zweitens funktionieren unsere Sozialsysteme nur dann, wenn sie ihre Versprechen einhalten, wenn der Bürger weiß, dass er sich auf sie verlassen kann. Und drittens brauchen wir genügend Arbeitskräfte, die mit ihren Steuern und Beiträgen den Sozialstaat finanzieren und beispielsweise als Pflegekraft, Arzt oder Erzieher soziale Leistungen erbringen.
Im Hinblick auf die Generationengerechtigkeit wird das Verhältnis zwischen Erwerbstätigen und Rentnern allerdings immer extremer. Kamen 1960 auf einen Rentner noch sechs Erwerbstätige, werden es 2030 nur noch eineinhalb Erwerbstätige sein. Hinzu kommt, dass die Rentenbezugszeit heute doppelt so hoch ist wie damals: 1960 hatte ein Neurentner statistisch gesehen noch zehn Lebensjahre vor sich, heute sind es etwa zwanzig. Jüngere Generationen stellen sich daher zurecht die Frage, wohin dies führt und ob sie selbst im Alter auch so leben können wie heute ihre Eltern oder Großeltern. Darüber hatte man sich in der Vergangenheit keine Gedanken gemacht. Im Gegenteil, es ging immer nur bergauf. Das Problem ist nun, dass sich am Grundsystem der gesetzlichen Rente nicht viel ändern lässt.“
Wie kann man diesem Problem Ihrer Meinung nach begegnen? Wie schaffen wir eine nachhaltige Generationengerechtigkeit?
„Wenn das so einfach wäre! Orientieren könnte man sich an der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutzgesetz. Das hat erst einmal nichts mit der sozialen Sicherheit zu tun. Doch wenn man diese Entscheidung liest, findet man Passagen, die sinngemäß auf den Bereich der sozialen Sicherung übertragen werden können. Die Kernaussage in der Klimaschutzentscheidung lautet, dass Deutschland bis 2045 klimaneutral werden muss. Dieses Ziel ist unglaublich ambitioniert. Wir tun derzeit zu wenig, um dieses Ziel zu erreichen. Vielmehr sind harte Klimaschutzmaßnahmen erst ab 2030 vorgesehen. Das Bundesverfassungsgericht hat demnach entschieden, dass man nicht bis 2030 die Zügel schleifen lassen kann, um sie dann umso heftiger anzuziehen. Denn das trifft die nächste Generation und ist nicht gerecht. Lasten oder Schulden dürfen nicht einfach in die Zukunft verschoben werden. Genau dieser Gedanke kann nun auf die soziale Sicherung übertragen werden. Erforderlich ist auch hier ein gerechter Ausgleich zwischen der jüngeren, erwerbstätigen Generation und den Rentnern. Bei den Erwerbstätigen sollte der gesamte Sozialversicherungsbeitrag nicht über 40 Prozent und der Arbeitnehmeranteil nicht über 20 Prozent steigen. Bei den Renten dürfen die Steigerungen nicht ganz so hoch ausfallen wie derzeit. Wer noch rüstig ist und arbeiten will, sollte das auch tun und dafür durch steuerliche Anreize belohnt werden.
Es wird sich auch die Frage stellen, ob wir uns reduzierte Arbeitszeiten und lange Urlaubszeiten weiterhin wie im bisherigen Umfang leisten können. Im Moment sind wir bei der Anzahl der Urlaubstage Weltmeister, bei der Arbeitszeit am Ende der europäischen Rangliste. Dabei hängt unser Wohlstand auch daran, dass die Wirtschaft ausreichend Arbeitskräfte zur Verfügung hat. Insgesamt brauchen wir, mental gesehen, eine Umstellung: Weg von der Vollkasko-Mentalität und der Haltung, dass der Staat es schon richten wird, hin zu mehr Eigenverantwortung. Zum Beispiel sollten sich im Bereich der Altersvorsorge junge Menschen fragen, ob sie Wohneigentum erwerben oder auf andere Weise für ihr Alter vorsorgen können.
Angesichts der knapper werdenden Ressourcen müssen wir uns die Frage stellen, ob wir Leistungen reduzieren, einfacher machen oder streichen können und ob dies sozial vertretbar ist. Das werden harte Diskussionen sein, das ist klar. Aber wir brauchen eine Aufgabenkritik, was wichtig für die Zukunft ist und worauf man, ohne dass es allzu schmerzhaft ist, verzichten kann. Diese Veränderung wird eine gewisse Anstrengung verlangen und auch das eine oder andere Opfer.“
Herr Schlegel, Ihre Überlegungen klingen, wenn auch etwas düster, sehr schlüssig – und theoretisch. Wie können wir diese Gedanken in die Praxis bringen? Wer legt den Hebel um?
„Den Hebel können wir nur alle gemeinsam umlegen. Wir müssen nur aufpassen, weil es neue populistische Parteien gibt, die einfache Lösungen versprechen, ohne ein Konzept dafür zu haben. Ich wünsche mir mehr Mut der etablierten Parteien und ihren Politikern. Mir fehlt an der gegenwärtigen Politik, dass über die Wahlperioden hinaus gedacht wird, Probleme klar angesprochen und Lösungen auch dann diskutiert werden, wenn diese mit Zumutungen für Bürgerinnen und Bürger verbunden sind.
Ein erster Ansatz, der alle entlastet, wäre ein tatsächlicher Bürokratieabbau, beispielsweise bei Anträgen, Meldungen und Genehmigungen. Nehmen wir uns doch einfach mal vor, in der nächsten Legislaturperiode 33 Prozent aller bürokratischen Vorschriften auf den Prüfstand zu stellen und dann mindestens die Hälfte davon zu streichen. Nach vier Jahren kann überprüft werden, ob sich die Welt immer noch dreht. Eine andere Möglichkeit wäre, Kommunen mehr einzubinden, damit sie nicht nur Befehlsempfänger der Länder und des Bundes sind. Aktuell werden viele Weichen auf Bundesebene gestellt, doch die Kommunen müssen es ausbaden, zum Beispiel wenn sie trotz fehlender Arbeitskräfte Kindergartenplätze vorhalten oder Geflüchtete unterbringen sollen. Und dann auch noch den Frust der Bürger aushalten müssen, weil sie kommunale Aufgaben wie Schwimmbäder oder Büchereien nicht mehr finanzieren können. Im Grundgesetz könnte geregelt werden, dass die Kommunen mehr eigene Mitspracherechte haben, wenn ihnen Aufgaben auferlegt werden. Das würde bei den Bürgern vor Ort für mehr Verständnis sorgen und die demokratische Mitbestimmung stärken.
Unsere Welt ist unglaublich komplex. Es gibt eigentlich für nichts eine einfache Lösung. Das müssen wir uns klar machen, auch wenn wir eine große Sehnsucht nach klaren Verhältnissen und klaren Botschaften haben.“
Das klingt nach Gemeinschaft und Aufbruch. Wie lässt sich dieser Gedanke auf Ihre Heimat im Zollernalbkreis übertragen? Was schätzen Sie daran?
„Hier kennt man sich. Es gibt noch Strukturen mit entsprechender Bindungskraft. Zwar nicht mehr so wie vor 40 Jahren, aber noch gibt es den Sportverein, den Musikverein oder den Posaunenchor. Das sind Orte, an denen man sich trifft und gemeinsame Interessen teilt. Das schätze ich an meiner Heimat. Doch ich bin traurig darüber, dass die Dorfkerne veröden und die Stadtzentren ausbluten. Es wäre schön, wenn sich dort wieder Geschäfte und Lokale niederlassen würden. Das Dorfgasthaus ist ein typisches Beispiel dafür. Man geht einfach hin, isst und trinkt, trifft Nachbarn und Freunde, tauscht sich aus und debattiert, statt allein zu Hause zu sitzen. Es ist ein Gegenmittel gegen die sich ausbreitende Einsamkeit. Aber es bräuchte noch mehr Initiative der Menschen, eine Bereitschaft, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Ich erinnere mich, dass ich im Freibad der kleinen Ortschaft Streichen das Schwimmen gelernt habe. Das war nur möglich, weil die Dorfbewohner aus dem Feuerlöschteich ein Schwimmbad gemacht haben.
Wunderbar ist hier außerdem die Natur. Ich selbst vermisse sie sehr, wenn ich in Berlin bin. Wenn man sieht, was die Alb bietet, wird einem der Wert bewusst. Herrscht in Stuttgart, Reutlingen und Tübingen Nebel, kommen die Menschen zu uns auf die Schwäbische Alb. Das bringt selbstverständlich auch Wirtschaftskraft mit sich und ich finde es eine schöne Entwicklung, dass man mit diesem Pfund wieder wuchert. Wenn dazu die Städte ästhetisch wieder schöner werden, wäre das erfreulich. Und nicht zuletzt bietet die Alb attraktive Arbeitsplätze. Es gibt hier kreative Unternehmen, die als hidden Champions auf ihrem Gebiet Weltmarktführer sind und wohl noch größere Bedeutung erlangen könnten, wenn man von Stuttgart usw. schneller und einfacher auf die Alb käme, ob nun mit dem Auto oder der Bahn.
Alles in allem macht es mich glücklich, auch hier leben zu dürfen.“
Mir persönlich gefällt sehr, was Sie sagen, Herr Schlegel, und ich nehme sehr viel Inspiration und Gedankengut aus diesem Gespräch mit. Ich wünsche uns allen, dass es uns gelingt, die von Ihnen genannten Voraussetzungen nachhaltig zu erfüllen und unsere soziale Sicherung aufrecht zu erhalten. Ganz besonders, dass wir an uns und unsere Stärke glauben. Ihnen persönlich wünsche ich einen Ruhestand, der im genau richtigen Maße aus Aufgaben und freien Wochen auf Sie und Ihre Frau zukommt.